Das Spitzenereignis
Westfälische Nachrichten, Erhard Hundorf
Ochtrup. Mit romantischer Klaviermusik begeisterte die Berliner Pianistin Gerlint Böttcher die Zuhörer bei der dritten Veranstaltung des Kulturringes. Schon nach wenigen Takten war klar, dass hier am Flügel in der Villa Winkel eine außergewöhnliche Pianistin saß. Zu Unrecht gehört der Tscheche Jan Václav Vorísek zu den vergessenen Komponisten. Formal wies er mit den von ihm entwickelten Kleinformen wie Rhapsodie oder Impromptu den Weg in die Romantik. Mit einer Auswahl aus den Rhapsodien op. 1 bewies Gerlint Böttcher, welche Schätze im Verborgenen schlummern. Unermüdlich schwirren die Finger der rechten Hand über die Tasten, die linke Hand gestaltet wuchtig das rhapsodische Thema. Unerbrochen wird das Ganze von einem klangvoll akkordisch geprägtem Mittelteil (Nr. 1 cis-moll). Kühne melodische und harmonische Wendungen und rhythmische Variationen bestimmen das Bild der 2. Rhapsodie E-Dur. Technisch brillant die Rhapsodie Nr. 10 C-Dur. „Man muss Liszt ernst nehmen, um ihn zu spielen“, sagte einst der österreichische Pianist Alfred Brendel. Gerlint Böttcher setzte dies voll um. Hinter all dem Passagenwerk und Tastendonner ließ sie das Subtile in Franz Liszts Kompositionen lebendig werden. In der Konzert-Etüde Des-Dur spürte die Pianistin die neuen Klangeffekte auf, die der Ungar dem Klavier abgewonnen hatte. Brillante, durchsichtige Laufwerke kennzeichneten die Interpretation der Paganini-Etüde Nr. 2 Es-Dur. In der Konzert-Etüde „Gnomenreigen“ bestach die elegante Staccato-Technik. Eine würdige Hommage zum 200. Geburtstag von Franz Liszt. Die „Variations sérieuses“ op. 54 gelten als das bedeutendste Klavierwerk von Felix Mendelssohn Bartholdy. Nicht übermäßig anmutig, nicht schwermütig überzeichnet stellte Gerlint Böttcher das Thema vor. In den folgenden 17 Variationen fand sie stets die Balance zwischen stilvoll Gesanglichem und virtuosem Spiel. Eine meditative Zwischenpause boten zwei Werke von Johann Sebastian Bach (Siciliano aus der 2. Flötensonate BWV 1031 und Choral „Jesus bleibt meine Freude“ aus der Kantate BWV 147). In den Klaviertranspositionen gestaltete Böttcher durchsichtig das polyphone Gewebe rund um die jeweils herrschende Melodie. Mit dem „Fantaisie-Impromptu“ cis-moll von Frédéric Chopin folgte eine der geschliffensten Kostbarkeiten der virtuosen Klavierliteratur, wie nur eben Chopin sie schaffen konnte. Die Pianistin spielte die perlenden Linien wie aus einem Guss. Der Klangrausch endete in einer fein abgetönten Gesangslinie in der linken Hand. Im „Wiegenlied“ von Johannes Brahms wurden wieder besinnliche Töne angeschlagen. Im abschließenden Scherzo Nr. 2 b-moll von Chopin bestach Gerlint Böttcher nicht nur mit großer Virtuosität, sondern gestaltete auch das Auffächern der Melodie mit großer Freude am Detail, wie etwa zu Beginn der Espressivo-Stelle im Mittelteil, in der Achtel und Achteltriolen feinsinnig gegeneinander abgewogen wurden. Viel Beifall, zum Teil „Standing ovations“. Als Zugabe erklang „Claire de lune“ von Claude Debussy. Damit schloss ein grandioser Klavierabend, der zum Spitzenereignis in den durchweg ausgezeichnet besetzten Konzerten des Kulturringes wurde.