Klangvolle Therapie-Sitzung
Hohenloher Zeitung, Bericht und Foto: Renate Väisänen
Wie sich die Persönlichkeit zweier Komponisten in ihrer Musik widerspiegelt erfahren rund 100 Konzertbesuche.
Dass Franz Liszt (1811 bis 1886) einen Psychologen gebraucht hätte, nachdem er von seinem ehrgeizigen Vater in den europäischen Metropolen als Wunderkind herumgereicht worden war, kann man sich vorstellen. Wie spiegelt sich das Erlebte in den Werken des Pianisten und Komponisten wider? Und von welcher Beschaffenheit sind die Werke eines komponierenden Psychologen und Psychotherapeuten, wie es der gebürtige Öhringer Günther Kasseckert war? Antworten auf diese Fragen zu erwarten rund 100 Zuhörer, die sich zur frühabendlichen, psychoanalytischen Sitzung der besonderen Art im Blauen Saal des Öhringer Schlosses eingefunden haben. Den ersten Ansatz zur psychohygienischen Betrachtung von Liszts Musikerseele liefert zu Beginn Pianistin Gerlint Böttcher auf dem Konzertflügel:
Mit raffiniert ausgearbeiteten Klangbildern, die sowohl tänzerische Leichtigkeit und als auch Bach‘sche Schwere vereinen, brilliert die Künstlerin gleich zum Einstand beim Andante capriccioso in Es-Dur der zweiten „Grandes étude de Paganini“. „Bemühe dich, dass all deine Worte und Taten deinen Vater zufrieden stellen“, so hätte der erzieherische Ansatz von Vater Liszt gelautet. Dieser hätte das musikalische Talent seines Sohnes sowohl gefördert als auch herausgefordert. Den psychologischen Begriff der Alienation bringt Experte Martin Jung dazu ein. Allein der Musik zu gehorchen, sei Liszts Streben gewesen, in allem, was er unternommen hätte. Das stelle eine hohe Entfremdung von seiner eigenen Person dar, lautet die Anamnese des Doktors der Psychologie. Mit drei Charakterstücken des bekennenden Magyaren aus den „Années de pèlerinage“, wie Liszt seine Aufenthalte in der Schweiz und Italien nannte, beleuchtet Pianistin Böttcher musikalisch die Entwicklung des Künstlers. Klangschöne, impressionistisch anmutende Landschaftsbeschreibungen mit tänzerischen Motiven, elegischen Ausschweifungen und leise fragenden wie resignativen Töne umschreiben beim geschmeidig virtuosem wie farbenreichen Vortrag Böttchers auf dem Pianoforte die zunehmende Selbstfindung des Patienten Liszt.
Wie der 2017 verstorbene Psychologe und Psychotherapeut Kasseckert seine Naturbeobachtungen in Noten kleidete, bringt Böttcher mit dem „Ring der Dunkelheit“ aus der Komposition „Waldfantasie“ mit faszinierenden Tastenklängen dem Publikum zu Gehör. Anfangs finster und bedrohlich wirkend, dann immer runder, in sich kreisend lichter werdend, kommt das imposante Werk daher. Einflüsse aus dem Jazz findet man in den in den „marschierenden Waldameisen“, die sich scheinbar chaotisch fortbewegend, strukturiert und vereint Großes schaffen. Probleme wie Liszt, nämlich sich durch die Berufswahl von seiner Person zu entfremden, hatte Kasseckert wohl nicht gehabt, glaubt man seinem Studienkollegen Jung. Anstatt eine Werkzeugmacher-Lehre zu beginnen, hätte der leidenschaftliche Pianist vorgezogen, Psychologie zu studieren.